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Interview mit Dr. med. Uwe Schwichtenberg zum kreisrunden Haarausfall (Alopecia areata)*

Am 29. April 2023 findet der jährliche Tag der Immunologie statt. Was geht Ihnen hierbei durch den Kopf?

Dr. Uwe Schwichtenberg:
Zunächst denkt man natürlich an seine Patienten, aber auch an sich selbst. Wenn man sich die Entwicklung in der Immunologie der letzten Jahre anguckt, ist man als Arzt einfach nur dankbar - dankbar dafür, miterleben zu dürfen, was sich in der Entzündungsmedizin und bei der Behandlung von entzündlichen Erkrankungen tut. Es ist großartig, was wir an neuen Optionen dazu gewonnen haben, sei es für die Schuppenflechte, atopische Dermatitis, Akne inversa oder bei kreisrundem Haarausfall. Es gibt so viele Erkrankungen, die über immunologisch entzündliche Prozesse vermittelt werden. Die Möglichkeit, hier nun gezielt eingreifen zu können und maßgeblich zur Lebensqualität unserer Patientinnen und Patienten beitragen zu können, deren Krankheiten vorher oftmals lediglich "verwaltet" werden konnten, das ist einfach ein tolles Gefühl.

In der Öffentlichkeit ist vielleicht nicht bekannt, dass auch die Alopecia areata (AA), der kreisrunde Haarausfall, eine chronische Autoimmunerkrankung ist. Was sind die Ursachen einer Alopecia areata, weshalb sie als Autoimmunerkrankung gilt?

Dr. Uwe Schwichtenberg:
Bei der Alopecia areata verliert der Haarfollikel sein immunologisches Privileg. Immunologisches Privileg bedeutet, dass Abwehrzellen erkennen, dass diese Zellen zu uns gehören und nicht angegriffen werden. Diese Freund-Feind-Erkennung funktioniert beim kreisrunden Haarausfall nicht mehr, und die Abwehrzellen halten die Zellen des Haarfollikels für etwas, das bekämpft werden muss. Sie stellen sicher, dass die Haarfollikel-Zellen zwar nicht zugrunde gehen, aber sie eben nicht mehr arbeiten können, das heißt, die Abwehrzellen richten sich gegen das körpereigene Personal und hindern es am Arbeiten.

Das sieht man bei vielen entzündlichen Erkrankungen. Es können jegliche Strukturen unseres Körpers auf diese Art und Weise betroffen sein. Richten sich die Abwehrzellen gegen die Haarfollikel-Zellen, ist es kreisrunder Haarausfall, wenden sie sich gegen die farbstoffbildenden Zellen, ist es Vitiligo bzw. Weißfleckenkrankheit, sind die Hautzellen betroffen, ist es der große Formenkreis der atopischen Dermatitis bzw. Neurodermitis, greifen die Abwehrzellen die Schilddrüsenzellen an, ist es Hashimoto-Thyreoiditis. Diese Aufzählung kann um viele Erkrankungen erweitert werden, die alle letztendlich die gleiche Fehlfunktion im Hintergrund haben, nur mit unterschiedlichen Zielstrukturen.

Die Tatsache, dass all diese autoimmunologischen Erkrankungen auf den gleichen Mechanismen beruhen, erklärt wiederum, dass viele dieser Erkrankungen gehäuft gemeinschaftlich auftreten. Liegt eine von diesen Erkrankungen vor, besteht gegenüber der Durchschnittsbevölkerung ein leicht erhöhtes Risiko, auch an einer zweiten Erkrankung aus diesem Formenkreis zu erkranken. Deshalb sehen wir zum Beispiel bei kreisrundem Haarausfall, dass die Patientinnen und Patienten häufig gleichzeitig eine atopische Dermatitis oder eine immunologische Schilddrüsenentzündung haben.

Stufen Sie die AA als behandlungsbedürftige Autoimmunerkrankung ein, wo der Einsatz von modernen Systemtherapien aus Ihrer Sicht sinnvoll wäre?

Dr. Uwe Schwichtenberg:
Wenn man als Arzt mit Patientinnen und Patienten zu tun hat, die unter kreisrundem Haarausfall leiden, dann stellt sich diese Frage eigentlich nicht. Der tägliche Umgang mit Betroffenen zeigt eindeutig, dass es sich hierbei um eine ernstzunehmende Autoimmunerkrankung handelt, die einer Therapie bedarf. Der Alopecia areata liegt ein immunologisches Geschehen zugrunde, d.h. hier laufen fehlerhafte Prozesse im Körper ab, die eine antientzündliche Therapie erfordern. Es ist zudem eine Erkrankung, die die Lebensqualität unserer Patientinnen und Patienten ganz maßgeblich beeinträchtigt und alleine schon aus diesem Grund einer effektiven Therapie bedarf.

Die Lebensqualität unserer Patientinnen und Patienten mit kreisrundem Haarausfall wird auf zwei unterschiedlichen Wegen beeinträchtigt. Zum einen treten mechanisch-physiologische Probleme auf, die sich ergeben, wenn der Haarausfall auch z.B. die Augenbrauen, die Wimpern oder die Nasenhaare betrifft. Neben der Ästhetik erfüllen Haare wichtige Funktionen. Die Kopfhaare schützen vor UV-Einstrahlung. Die Augenbrauen schützen davor, dass Schweiß in die Augen läuft. Die Wimpern schützen vor anfliegenden Fremdkörpern. Die Nasenhaare filtern unsere Einatemluft. Das heißt, es treten Reizeffekte auf, wenn diese Haare fehlen.

Dazu kommt das Thema des Aussehens, der Stigmatisierung. In dem Moment, wo die Haare fehlen - seien es nur ein paar Stellen mit einem eher fleckigen Eindruck oder auch recht großflächig - kommt es häufig zu Problemen. Patientinnen und Patienten werden ständig darauf angesprochen und können es irgendwann nicht mehr ertragen, allein angestarrt zu werden. Ich habe Patientinnen und Patienten, die sind beispielsweise als Architektin oder Architekt selbstständig, und die erhalten keine Aufträge mehr, weil die Kundinnen und Kunden sich denken "Das sind sicher die Folgen einer Chemotherapie, wer weiß, wie lange das noch geht, ich suche mir für mein Bauprojekt lieber jemand anderen". Man kann sich gar nicht vorstellen, welche Konsequenzen das für die Patientinnen und Patienten hat, so gezeichnet und den Blicken der Mitmenschen ausgesetzt zu sein. Dies kann zu handfesten Depressionen und psychiatrischen Störungen führen, wenn die Verarbeitung dieser Belastungssituation nicht mehr adäquat funktionieren kann.

Was oftmals vergessen wird bei der Funktion von Augenbrauen und Wimpern, ist das kommunikative Element dieser Gesichtsstrukturen. Es untermauert im Gespräch die Emotionen des Sprechers, die das Gegenüber auf diese Art und Weise erkennt. Fehlt es, fehlt ein Element der Kommunikation. Dies macht die Kommunikation unsicherer, Gespräche schwieriger. Das kann im täglichen Leben ebenfalls eine relevante Rolle spielen.

Welche Behandlungsmöglichkeiten stehen Ihnen heute zur Behandlung schwerer Formen der AA zur Verfügung und wie können Patient:innen davon profitieren?

Dr. Uwe Schwichtenberg:
Wir haben über die Jahre für die Alopecia areata diverse therapeutische Optionen ausprobiert, und immer mal wieder gab es Therapieversuche, von denen gesagt wurde, sie hätten schon einmal bei jemandem funktioniert. Dies ist natürlich schwierig zu beurteilen, vor allem bei einer Erkrankung, die ohnehin eine gewisse Spontanheilungstendenz hat. Dass so lange gesucht wurde, dass die Liste der therapeutischen Ansätze, die beim kreisrunden Haarausfall ausprobiert wurden, endlos lang ist, liegt im Wesentlichen daran, dass nichts davon wirklich richtig, zuverlässig und überzeugend bei einer Mehrzahl unserer Patientinnen und Patienten funktioniert hat.

Für Laien ist es schwer zu verstehen, dass der kreisrunde Haarausfall jetzt zielgerichtet behandelbar ist, dies zugelassen und verordnungsfähig, aber nicht erstattungsfähig ist. Es gibt gesetzliche Hürden für Medikamente, die das Haarwachstum fördern, da sie als "Lifestyle-Medikamente" eingeordnet werden. Der Hintergedanke war hier, dass zu ästhetischen Zwecken eingesetzte Medikamente nicht zu Lasten einer gesetzlichen Krankenkasse verordnet werden dürfen. Das Problem ist, dass damit das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wurde. Denn dass wir es hier mit einer krankheitswertigen Störung, einer behandlungswürdigen Erkrankung zu tun haben, das ist unstrittig. Wir haben jetzt eine Hürde für die Erstattung der wirklich wirksamen zielgerichteten Behandlung des kreisrunden Haarausfalles. Dies ist aktuell ein relevantes Verordnungshindernis.

Wie ist das Vorgehen bei der Beantragung einer individuellen Kostenübernahme? Welche Tipps können Sie Patient:innen für eine mögliche Einzelfallerstattung geben?

Dr. Uwe Schwichtenberg:
Durch die Situation, dass der kreisrunde Haarausfall zielgerichtet behandelbar ist, was aber nach aktueller Sachlage nicht erstattungsfähig ist, müssen sich Betroffene und Behandelnde in jedem Einzelfall an die entsprechenden Kostenträger wenden und versuchen, sie von der Kostenübernahme zu überzeugen und deutlich machen, dass es sich um eine krankheitswertige Störung handelt und nicht um ein rein ästhetisches Thema.

Das heißt, man benötigt eine adäquate Dokumentation aus der hervorgeht: Welches Ausmaß hat der Haarausfall? Sind zum Beispiel Augenbrauen und Wimpern mit betroffen? Welche funktionellen Konsequenzen hat das Ganze speziell für diese Patientin oder diesen Patienten? Was macht sie oder er beruflich? Warum ist das in diesem Falle besonders störend? So ist es für eine Lehrerin mit kreisrundem Haarausfall etwas anderes, immer wieder vor neuen Klassen stehen und immer wieder aufs Neue Fragen dazu beantworten zu müssen, als für jemanden, der zu Hause im Homeoffice arbeitet. Das ist ein Unterschied. Dementsprechend muss man auf die persönliche Situation der jeweiligen Patientinnen und Patienten eingehen, um deutlich zu machen, warum in diesem Falle ein wirklich maßgeblicher Leidensdruck da ist, der eine entsprechende Therapie rechtfertigt. Um dies zu verdeutlichen, empfiehlt es sich, dass Betroffene möglichst ausführlich und klar den Leidensdruck und die konkreten Belastungen im Alltag beschreiben, inklusive möglicher psycho-sozialer Folgen. So wird verständlich gemacht, dass es hier nicht einfach nur darum geht, wieder Haare zu haben, sondern dass man sich endlich wieder in der Öffentlichkeit zeigen können möchte, ohne stigmatisiert zu werden oder sich ständig erklären zu müssen.

Auch eine Fotodokumentation ist dabei sehr wichtig. So kann die Sachbearbeiterin oder der Sachbearbeiter konkret sehen, wie stark jemand betroffen ist und eher Verständnis dafür aufbringen, dass man so nicht herumlaufen und etwas dagegen unternehmen möchte.

Patient:innen und Ärzt:innen haben dies zum Anlass für eine Online-Petition genommen. Diese fordert den Deutschen Bundestag dazu auf, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Patient:innen, die an Alopecia areata erkrankt sind, einen bedarfsgerechten Zugang zur medizinischen Behandlung erhalten. Auch Sie unterstützen diese Petition. Warum liegt Ihnen diese Petition am Herzen?

Dr. Uwe Schwichtenberg:
Wir haben im Moment eine Situation, in der der kreisrunde Haarausfall, die Alopecia areata, per Gesetzestext zur Lifestyle-Erkrankung gemacht worden ist, was definitiv dem Leidensdruck unserer Patientinnen und Patienten nicht im Entferntesten gerecht wird. Hier meine Geheimratsecken als Haarausfall in den gleichen Topf zu werfen wie den kreisrunden Haarausfall, der die gesamte Kopfhaut, Augenbrauen und Wimpern betrifft, das ist schlicht und ergreifend eine Zumutung gegenüber den Patientinnen und Patienten mit kreisrundem Haarausfall, und das kann definitiv so nicht bleiben. Die Konsequenz, dass der kreisrunde Haarausfall jetzt zielgerichtet behandelbar ist, und dies zwar verordnungsfähig, aber nicht erstattungsfähig ist, ist definitiv eine versicherungsrechtliche Katastrophe. Und das darf so nicht bleiben. Wir wollen und wir müssen Patientinnen und Patienten mit kreisrundem Haarausfall adäquat behandeln können. Das heißt, wir brauchen eine Änderung des gesetzlichen Rahmens. Haarausfall ist nicht gleich Haarausfall, und es darf nicht alles über den gleichen Kamm geschert werden.

*Diese Inhalte wurden zur Verfügung gestellt von der Lilly Deutschland GmbH.

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