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Offener Brief von Dr. Uwe Schwichtenberg an die Verantwortlichen in der Politik
6. Dezember 2023 - Dr. Uwe Schwichtenberg

Sehr geehrte Fr. Dr. Kappert-Gonther, 
Sehr geehrte Frau Stamm-Fibich,
Sehr geehrte Frau Ryglewski,

ich schreibe Ihnen diesen offenen Brief in meiner Funktion als Mitglied des Bundesvorstands der Berufsverbandes der Deutschen Dermatologen (BVDD) e.V.). Ich möchte Sie aufmerksam machen auf ein medizinisches Dilemma unerträglichen Ausmaßes für viele betroffene Menschen in Deutschland vom Kindes- bis zum Erwachsenenalter. Die Rede ist vom kreisrunden Haarausfall, lateinisch Alopecia areata. Hierzu gibt es bereits eine Petition an den Deutschen Bundestag (Nummer 148387 Gesetzliche Krankenversicherung - Leistungen - Bedarfsgerechte Behandlung von kreisrundem Haarausfall (Alopecia areata).

Bei der Alopecia areata verliert der Haarfollikel sein immunologisches Privileg. Immunologisches Privileg bedeutet, dass Abwehrzellen erkennen, dass diese Zellen zu uns gehören und nicht angegriffen werden. Dies hat zur Folge, dass sich Immunzellen, die sich eigentlich um die Abwehr von Viren, Bakterien und Pilzen kümmern sollen, ihre Aktivität gegen die Zellen in den Haarwurzeln des eigenen Körpers richten. Die Haare werden somit vom Immunsystem als "fremd" erkannt und deshalb abgestoßen. Dies geschieht, indem zunächst eine Entzündungsreaktion entsteht, die das Haarwachstum stört und schließlich zum Ausfallen des Haares führt. Typischerweise liegen am behaarten Kopf dann eine oder viele kleine oder große kreisrunde, ovale oder auch bizarr geformte kahle Stellen vor. Das Fatale dabei ist: Jeder Haarfollikel des Körpers kann betroffen sein, auch Augenbrauen, Wimpern, Achsel- und Schamhaare. Es gibt daher schwere Verlaufsformen, bei denen alle Haare auf dem Kopf ausfallen (Alopecia areata totalis) oder Menschen die sogar alle Haare des Körpers verlieren (Alopecia areata universalis). Bilder zur Alopecia areata finden Sie unter diesem Link: https://www.haarerkrankungen.de/therapie/alopeciaareata_bilder.htm

Der tägliche Umgang mit Betroffenen zeigt eindeutig, dass es sich hierbei um eine ernstzunehmende Autoimmunerkrankung handelt, die einer Therapie bedarf. Der Alopecia areata liegt ein immunologisches Geschehen zugrunde, d.h. hier laufen fehlerhafte Prozesse im Körper ab, die eine antientzündliche Therapie erfordern. Es ist zudem eine Erkrankung, die die Lebensqualität unserer Patientinnen und Patienten ganz maßgeblich beeinträchtigt und alleine schon aus diesem Grund einer effektiven Therapie bedarf.

Die Lebensqualität unserer Patientinnen und Patienten mit kreisrundem Haarausfall wird auf zwei unterschiedlichen Wegen beeinträchtigt. Zum einen treten mechanisch-physiologische Probleme auf, die sich ergeben, wenn der Haarausfall auch z. B. die Augenbrauen, die Wimpern oder die Nasenhaare betrifft. Neben der Ästhetik erfüllen Haare wichtige Funktionen. Die Kopfhaare schützen vor UV-Einstrahlung. Die Augenbrauen schützen davor, dass Schweiß in die Augen läuft. Die Wimpern schützen vor anfliegenden Fremdkörpern. Die Nasenhaare filtern unsere Einatemluft. Das heißt, es treten Reizeffekte auf, wenn diese Haare fehlen.

Dazu kommt das Thema des Aussehens, der Stigmatisierung. In dem Moment, wo die Haare fehlen - seien es nur ein paar Stellen mit einem eher fleckigen Eindruck oder auch recht großflächig - kommt es häufig zu Problemen. Patientinnen und Patienten werden ständig darauf angesprochen und können es irgendwann nicht mehr ertragen, angestarrt zu werden. Ich habe Patientinnen und Patienten, die sind beispielsweise als Architektin oder Architekt selbstständig, und die erhalten keine Aufträge mehr, weil die Kundinnen und Kunden sich denken "Das sind sicher die Folgen einer Chemotherapie, wer weiß, wie lange das noch geht, ich suche mir für mein Bauprojekt lieber jemand anderen". Man kann sich gar nicht vorstellen, welche Konsequenzen das für die Patientinnen und Patienten hat, so gezeichnet und den Blicken der Mitmenschen ausgesetzt zu sein. Dies kann zu handfesten Depressionen und psychiatrischen Störungen führen, wenn die Verarbeitung dieser Belastungssituation nicht mehr adäquat funktionieren kann.

Was oftmals vergessen wird bei der Funktion von Augenbrauen und Wimpern, ist das kommunikative Element dieser Gesichtsstrukturen. Es untermauert im Gespräch die Emotionen des Sprechers, die das Gegenüber auf diese Art und Weise erkennt. Fehlt es, fehlt ein Element der Kommunikation. Dies macht die Kommunikation unsicherer, Gespräche schwieriger. Das kann im täglichen Leben ebenfalls eine relevante Rolle spielen.

Wir haben in den Praxen und Kliniken über die Jahre für die Alopecia areata diverse therapeutische Optionen ausprobiert, von denen jedoch nichts wirklich richtig, zuverlässig und überzeugend bei einer Mehrzahl unserer Patientinnen und Patienten funktioniert hat. Für Laien und vor allem für Betroffene ist es daher extrem schwer zu verstehen, dass der kreisrunde Haarausfall jetzt zielgerichtet mit Medikamenten wie zum Beispiel dem Januskinase Inhibitor Baricitinib behandelbar ist, und dies auch zugelassen und verordnungsfähig, aber durch die Krankenkassen nicht erstattungsfähig ist. Es gibt gesetzliche Hürden für Medikamente, die das Haarwachstum fördern, da sie als "Lifestyle-Medikamente" eingeordnet werden. Der Hintergedanke war hier, dass zu ästhetischen Zwecken eingesetzte Medikamente nicht zu Lasten einer gesetzlichen Krankenkasse verordnet werden dürfen. Das Problem ist, dass damit das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wurde. Denn dass wir es hier mit einer krankheitswertigen Störung, einer behandlungswürdigen Erkrankung zu tun haben, das ist unstrittig. Wir haben jetzt also eine unnötige und einfach per Gesetzestext zu beseitigende Hürde für die Erstattung von modernen, wissenschaftlich geprüft wirksamen und zielgerichteten Behandlungen des kreisrunden Haarausfalles.

Wir haben im Moment eine Situation, in der die Alopecia areata, per Gesetzestext zur Lifestyle-Erkrankung gemacht worden ist, was definitiv dem Leidensdruck unserer Patientinnen und Patienten nicht im Entferntesten gerecht wird. Meine Geheimratsecken als Haarausfall in den gleichen Topf zu werfen wie einen ausgeprägten kreisrunden Haarausfall, der die gesamte Kopfhaut, Augenbrauen und Wimpern betrifft, das ist schlicht und ergreifend eine Zumutung gegenüber den Betroffenen. Die Konsequenz, dass der kreisrunde Haarausfall jetzt zielgerichtet behandelbar ist, und dies zwar verordnungsfähig, aber nicht erstattungsfähig ist, ist definitiv eine versicherungsrechtliche Katastrophe. Und das darf so nicht bleiben.

Wir wollen und wir müssen Patientinnen und Patienten mit Alopecia areata adäquat behandeln können. Das heißt, wir brauchen eine Änderung des gesetzlichen Rahmens. Haarausfall ist nicht gleich Haarausfall, und es darf nicht alles über den gleichen Kamm geschert werden. Wir bitten Sie daher mit Nachdruck, sich dieses Themas anzunehmen und den schwer betroffenen Menschen in ganz Deutschland somit über deren Krankenversicherungen eine adäquate zugelassene medizinische Behandlung zukommen lassen zu können.

Mit freundlichen Grüßen & herzlichem Dank für Ihr Engagement,
Dr. Uwe Schwichtenberg

Mitglied des Bundesvorstandes des Berufsverbandes der Deutschen Dermatologen (BVDD) e.V.).
Vorsitzender des Landesverbands Bremen Berufsverbandes der Deutschen Dermatologen (BVDD) e.V.).

DERMA NORD Hautarztpraxen
Kaffeestraße 2
28779 Bremen

Dieser offene Brief wurde auch elektronisch übermittelt an:
Dr. Kirsten Kappert-Gonther (B90/G), stellvertretende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses 
kirsten.kappert-gonther.wk@bundestag.de

Frau Martina Stamm-Fibich Vorsitzende des Petitionsausschusses
martina.stamm-fibich@bundestag.de

Frau Sarah Ryglewski Staatsministerin bei Bundeskanzler Olaf Scholz
sarah.ryglewski@bundestag.de

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